Donnerstag, 5. Oktober 2017

Septemberschnee

Von Annette Vieli, September 2012

Es soll schneien. Bis 1300, hat der Wetterbericht gemeldet. So ist das in den Bergen im September. Oder eigentlich immer. Wir leben nahe am Schnee. Oder auch immer weiter weg. Wie man es nimmt. Der Gletscher ist immer weiter hinten. Im Tal. Daran sind wir vielleicht selber schuld. Aber nicht daran, dass es schneit. 1300 ist besser als 1000. Das ist so. Man darf nicht Jammern. Dem Wetter ist es eh wurscht, wenn wir Jammern. Es tut was es muss und egal was, jemand klagt immer übers Wetter. Dann muss man die wahren Probleme nicht beim Namen nennen.

Wir treiben die Tiere auf der Alp schon Vormittags weiter runter , dann schneit es nicht so fest. Lässt man sie ganz oben und betet, dass das Wetter einen nicht findet, kommts meistens schlimmer. Sie wollen nicht so gerne runter, zum Finsterbach. Der Weg ist steinig. Wie das halt manchmal so ist, auch im Leben einer Kuh. Doch geben sie dem Druck der Treiber nach. Die Tiere kennen ihre Menschen genau. Sie wissen, dass wir auch nicht so gerne nachgeben.
Mein Mann geht vor und ruft, jetzt kommt die Herde ins fliessen. Chum chum
chööömed….Wie eine braunschwarzrotgelbweisse Schlange folgen sie eins um eins dem schmalen Pfad, geschmeidig passt sich die Schlange den Unebenheiten des Geländes an. Am liebsten paarweise, Kuh mit Kalb, sonst gibt’s Stau, wenn eine Mami ihr Kind verliert. Ich flankiere, Toni ist hinten. Er hat die Obersten geholt, ist plötzlich aus dem Nebel aufgetaucht. Wir müssen nicht reden.

 Natürlich treffen die Letzten die offene Lücke im Zaun mal wieder nicht. Toni und ich flicken ihn. Toni hat zwei Zangen. Wir mögen den Strom nicht. Bernhard, mein Mann ist da nicht zimperlich. Er ist schon weiter unten, deutet in die Rinne unter mir. Ein paar Tiere haben abgekürzt und stehen zuvorderst auf einem Felsband. Nicht gerade ein Grund zur Panik, denn Rinder sind nicht dumm, aber manchmal schubsen sie sich. Unabsichtlich. Ich springe runter und leite um. Wie bei den Verkehrskadetten.

Jetzt ist da noch die Kuh, die hinkt. Ihr Kalb hat sie dabei. Kurz entschlossen treiben wir die zwei in Richtung Hütte. Sie hat den Anschluss an die Herde verloren, die Gelegenheit ist günstig. So jagen die Raubtiere; von der Herde abtrennen und zuschlagen. Wir wollen sie ja nicht essen, also nicht grad jetzt, aber sie bekommt trotzdem Angst. Es nutzt nichts, wir sind zu dritt, sie muss zum Stafel, dort kann man ihr Bein behandeln. Die Bise schmettert uns mit aller Kraft den eisig feuchten Schneeregen entgegen. Trotz funktioneller Bekleidung fühlt es sich kalt und nass an. Ob Lodenmantel, Friesennerz oder Gore-Tex, eins bleibt aller Hirtengenerationen Gemeinsamkeit, scheussliches Wetter ist immer ungemütlich. Ich finde nicht, dass alles besser wird oder war. Arschkalt ist kalt. Früher und heute. Früher hat man vielleicht nicht gejammert. Ich jammere aber auch nicht. Wir leben ja auch nicht, um es immer gemütlich zu haben, sonst wüssten wir ja gar nicht, was das ist.

Toni und Bernhard haben die schwarzen Teufel gesichtet. So nenne ich die Anguskühe, obwohl es nicht stimmt, das ist nur ein blöder Spruch, sie sind nur manchmal etwas “grindig“, aber das macht ja nichts. Bin ich vermutlich auch. Ich bin vielleicht auch teuflisch. Sie waren noch auf einer anderen Weide, müssen jetzt auch wieder mit der Herde fusionieren. Sie treiben sie unten hinter. Ich versuche mit Frau Hinkebein oben vor zu schleichen, dass sie nicht gleich wieder nach Herdenanschluss trachtet.

 Es wird immer stürmischer und kälter, kein Baum und kein Hügel stellen sich hier dem peitschenden Wind entgegen. Ich darf es kaum sagen, aber ich liebe es. Dann sind die Berge entvölkert. Nur für Hirten Herden, Wild und Jäger da. Ausserdem trotze ich gerne. Dem Wetter. Sonst vergeht einem das Trotzen mit den Jahren, andere behaupten, man werde schlauer- ich weiss nicht. Das Schlausein hab ich eh schon aufgegeben. Ist nicht so mein Ding. Ich trotze nicht ungern. Man muss viel zu oft nachgeben. Danach ist man verärgert. Jeder wäre gerne ein bisschen Guevara. So verfolge ich die Guerilla Taktik gegen den Sturm.

Die Männer kommen zurück, Hinkebein war brav, sie nehmen sie nun mit. Ich gehe noch mal hoch, ins Täli, dorthin haben wir zwei Kühe, die bald kalben und eine mit frischem Kalb vormittags von der Herde abgesondert. Nun werde ich sie zur Hütte treiben, damit sie in den Stall können. Jede ist woanders. Die mit dem kleinen Kalb will sich verstecken und geht ganz hoch, die, die zuerst kalben soll, will alleine sein und geht ganz hinter ins Täli, ein Zeichen, dass es bald soweit ist, und die Dritte will zurück zur Herde und quert den langen Hang in die entgegengesetzte Richtung. Sie lassen mich rennen. 4:1 ist unfair. Meine Oberschenkel werden schwach, ich drücke mit einer Hand drauf ab, stosse mich mit der andern mit dem Stecken ab. Dass 700 kg schwere Tiere so schnell gerade hoch rennen können wird mich lebenslänglich erstaunen. Aber sie trainieren ja den ganzen Sommer. Ich gebe nicht auf. Du oder ich, nur nicht fluchen, sonst läuft sie noch schneller. Jetzt halb über ihr darf ich fluchen huerebabe sie nimmts nicht persönlich. Jetzt geht’s wieder gerade abwärts. Im Zickzack und in unschmeichelhaftem Monolog nähern wir uns  dem Stafel.

Mein Mann hat die hinkende Kuh im Stall im Klauenstand schon behandelt. Durch einen kleinen Riss war Schmutz in den Klauen eingedrungen und hatte eine Entzündung produziert.
Jetzt gibt’s noch Heu für die Tiere und Tee für die Hirten.

Toni ist schon lange pensioniert, aber fit wie ein Junger. Als Junge war er Hirt auf dieser Alp und anderen. Jetzt macht er Aushilfshirt, wenn unser eigentlicher Hirt wieder seiner Arbeit als Lehrer nachgeht. Toni kennt jeden Stein und schaut gut zu den Tieren.

Seine Frau hat für ihn gekocht. In der warmen Stube erzählt er, wie schön es war, als Bub im alten Zervreila für die Grosseltern Vieh zu hüten. Man sei nie alleine gewesen, da waren viele andere Kinder, die auch hüten und helfen mussten und manchmal vergass man das Hüten und spielte zusammen. In jedem Haus seien Frauen gewesen, die gekocht und eingefeuert hatten, wenn man abends müde heimkam und einem die nassen Kleider trockneten. Das sei die schönste Zeit des Lebens gewesen. Eigentlich möge er die Staumauer und den See, die das Dorf seiner Kindheitserinnerungen begraben haben, nicht anschauen.

Das beeindruckt mich. Ich liebe Geschichten von früheren Zeiten. Wir müssen heim, ins Dorf. Unsere Kinder haben Mittags alleine gegessen. Ich habe morgens um halb sechs schon Braten und Spätzli gemacht und im Ofen auf Mittags programmiert. Eigentlich bin ich zu faul für so Sachen, aber mache es  halt einfach. Manchmal.

Da war in jedem Haus eine Frau….hat Toni gesagt. Das geht mir nicht aus dem Kopf. Früher war das Leben also nicht nur hart in unseren Bergtälern, man erinnert sich an schöne Dinge.
 Ja, das wäre jetzt toll, wenn in unserem Haus auch eine Frau wäre, die den ganzen Haushalt erledigt hat, wenn ich heimkomme. Ich habe gern einen ordentlichen Haushalt, aber ich liebe die Arbeit mit den Tieren. Wenn ich nicht draussen bin, bin ich irgendwie im Käfig.

Es ist schon dunkel. Das Abendessen auf dem Tisch. Der Hirt ruft an, das Kalb ist da. Die Hirten sind angewiesen, nichts  mit frisch gekalbten Kühen zu machen, auf einer Alp im Nachbartal ist deswegen einmal ein Hirt verunfallt. Rein in die Bergschuhe raus aus der Bude. Mann bei Ziegen. Auto auch. Rein in die warme Jacke, ab auf den Töff. Batterie fast alle, sch…Ich weiss nicht warum ich den Kindern das Fluchen verbiete, wo es doch sozusagen mein Hobby ist? Die  Anrollversuche sind erfolgreich, das Losfahren irgendwie nicht. Typisch Frau? Auto kommt zurück. Mann auch. Also los. Runter ins Dorf, hinter nach Zervreila, hoch auf die Alp. Laufen, laufen. Im Dunkeln bin ich ganz schnell und sehe gut. Das Kälbchen aus den verschneiten Blachten heben, rüber in den Stall, Mami kommt hinterher. Toni ist erleichtert, dass das Päärchen nun im Trockenen ist. Bernhard holt Heu. Es ist wie im Stall zu Betlehem. Das Wunderkind soll Anja heissen, draussen ists dunkel und verschneit, das Heu duftet in der Krippe. Ich bin zufrieden müde.