Freitag, 11. August 2017

Die Jägerin

Von Annette Vieli, November 2012

Mein Mann und ich fahren ins gegenüberliegende Tal. Bald soll es wieder schneien. Wir haben dort noch den Stier und zwei Kühe mit Kälbern auf der Weide. Es ist schon Ende Oktober. In dem Tal kommt nicht mehr viel Sonnenlicht bis in die Talsohle. Die Sonne wandert so tief, dass sie nur noch einen kurzen Blick über die Berge wirft. Die Weide im Talboden am Fluss ist morgens  weiss vor Rauhreif. Zeit, die Tiere heim auf die Sonnenseite zu holen. Mein Mann lädt den Stier in den Anhänger. Wir geben den Kühen etwas Heu im Stall. Mein Mann fährt. Ich lege den Zaun ab. Auf der gegenüberliegenden Talseite läuft die Jägerin bedächtigen Schrittes bergauf, Rucksack und Flinte hängen schwer an ihr. Sie bleibt immer wieder stehen und beobachtet ihren Hund. Immer wieder stösst er dieses klägliche Gejaule aus, welches  heisst, dass die Hasenfährte ganz heiss ist. Im Zickzack mit Nase und Ohren am Boden bewegt er sich durchs Gebüsch. Jetzt wieder am offenen Hang. Das Gejaule wird immer aufgeregter. Die Jägerin stellt den Rucksack ab. Umfasst ihr Gewehr mit beiden Händen. Unser Hund beobachtet aufgeregt winselnd den Kollegen bei der Arbeit. Ich beobachte die Jägerin. Sie den Hund. Ihr muss das Gejaule, dass nun immer lauter und in kleineren Abständen kommt, wie ein Freudenschrei vorkommen. Da, jetzt hat der Hund den Hasen aus einer kleinen Senke am steinigen Hang aufgescheucht. Alle schauen, Hund, Jägerin Bauer, Kühe. Der Hase rennt, auf die Jägerin zu. Sie zielt. Schiesst. Er rennt. Noch ein Schuss. Auch der zweite Schuss war nichts. Schade. Für die Jägerin. Ein Jubel für den Hasen. Mit wem soll ich mitfühlen? Den Hund freut es gewiss, jetzt kann er weitermachen. Er heftet sich an die Hinterläufe des Hasen. Hinauf in die Büsche, hoch auf die Kante und weiter Richtung Valserberg.

In Gedanken sause ich dem Hasen hinterher. Leichtfüssig. Fast wie Fliegen. Immer höher hinauf. Unter dem Pass liegt Schnee und der graubraune Hase wird zum Schneehasen. Weiss und leicht saust er dem Horizont entgegen. Und dort entschwindet er mit einem Satz in die weisse Wolke, hoch in den Himmel, hinauf ins Firmament. Wenn es Nacht wird, glitzern die Sterne. Orion, der grösste aller Jäger und der grosse Hund jagen dann dem Hasen nach. Wie all die abertausende von Nächten zuvor. Und erwischen den Hasen auch nie.

Ein Trost für die Jägerin. Ich wäre auch gerne Jägerin geworden. Doch als Ausländerkind durfte ich keinen Jungschützenkurs besuchen. Nationale Sicherheit. So ist das. Alles hat seine Ordnung. Wäre ja verrückt, den Feind im eigenen Land auszubilden. Das machen nur die Amis. Vielleicht ist mein Platz hier schon älter als der des Jungschützenchefs. Von Reinkarnationstheorien hätte er aber eh nichts gehalten.

Ich bin begeistert von Jägerinnen. Das ist keine feministische Leier. Eher naturkundliche Leidenschaft. Denn die Jagd ist eigentlich weiblich. Zumindest die der Säuger. Die Löwen liegen lieber faul rum und lassen die Weibchen jagen. Die haben ja auch Hunger, wenn an jeder Zitze ein Junges hängt. Oder da war die ausgehungerte Füchsin, die im Frühling in ihrer Not sogar tags bis an unser Haus kam, um sich eine Ente zu holen. Der Hunger der Kleinen im Bau treibt sie täglich auf die Jagd. Die Jagd als Mittel zum Zweck ist also eher weiblich, das Töten als Zeitvertreib und aus Ideologie oder primitiven Beweggründen, ist wohl eher dem Männlichen zuzuordnen. Nein, nein, das ist unfair, Entschuldigung.

Artemis und Atalante waren Jägerinnen. Sie kamen auch nicht immer zu der Ehre, die ihnen gebührte. Sie waren die grössten Jägerinnen. Die Jungfräulichen. Jagten sie für ihre Schutzbefohlenen oder aus Lust am Jagen? Jedenfalls töteten sie auch aus Rache. Wild und stolz, auch nicht besonders nett, oder?

Ist der Bauer der Fortschritt oder die Verkümmerung des Jägers? Irgendwann, war es fortschrittlich und leichter, Tiere zu halten und zu essen als auf gefährlicher Jagd Erfolglosigkeit, Tote und leere Bäuche der ganzen Sippe zu riskieren. Kultiviertes beschaffen von Fell, Fleisch und Milch. Das war einmal modern. Die Jagd blieb immer, manchmal nötig, manchmal altmodisch, manchmal modern, manchmal illegal, feudal, aber immer verwurzelt. Feudal, modern, erlaubt oder nicht. Sie ging immer weiter von Generation zu Generation. Sie werden nie verschwinden, die Jägerinnen und Jäger. Auch wenn es halt nur noch Freizeitjägerei gibt. Auch wenn die Vegetarier und Tierschutzromantiker davon träumen: keine Jagd. Kein Blut. Es ist im Blut. In den Genen. Instinkt.  Mut, Geschick, Ausdauer und Verwegenheit, Phantasie. Die Gewissheit, selbst für vollen Magen zu sorgen, ohne immer nur in der Scholle zu graben. Nicht jeder ist ein guter Gärtner, manche sind geboren um zu Jagen. List und Geduld. Die eiskalten Hände ins warme Gedärm tauchen. Die Ehrfurcht vor der Kreatur, und der Ehrgeiz sich ihrer zu ermächtigen.


Als Nichtjägerin erschliesst sich mir diese Welt nicht. Aber ich habe Respekt für die Jägerin. In ihrer Familie waren immer Jäger. Wie dem auch sei, mache ich mich als verkümmerte oder weiterentwickelte Jägerin mit den Kühen, den Kälbern und dem Hund, der die kultivierte Jagd eines Hirtenhundes beherrscht, auf den Weg ins Tal. Ich bringe die zukünftige Beute jetzt schon ins Trockene, während der Hase Nacht für Nacht frohlockend über den Himmel jagt. Und die Jäger eigentlich ruhig schlafen könnten, in der Gewissheit, dass die Jagd so niemals enden wird.

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